Ist es unmöglich, gut zu sein und doch zu leben?

Erstellt von Rapp |

Die Oberstufentheater AG inszeniert Bertolt Brecht „Der gute Mensch von Sezuan“

 

Eine Bühne voll Müll, dazwischen angedeutete Unterschlupfe aus Abfall und Paletten, ein fremder und doch irgendwie vertrauter Anblick für alle Zuschauer. Das hat doch zum Glück alles nichts mit uns zu tun, oder?

Als Wasserverkäufer Wang erläutert Feli Bär recht nüchtern ein Schicksal, das auf einem unlösbaren Dilemma beruht: Regnet es, dann verkauft er kein Wasser, ist es trockengibt es fast kein Wasser. Dieses Dilemma scheint stellvertretend für alle Menschen im Stück.

Welche Erlösung scheint da der Auftritt der Götter zu sein, die in höherem Auftrag auf die Erde geschickt wurden: Sie müssen einen gutem Menschen finden, wenn sie diesen finden, dann kann die Welt bleiben wie sie ist. Ganz menschlich haben diese drei Götter auch unterschiedliche Eigenschaften: der eine ist zynisch, der andere gesetzestreu und der dritte geht alles sehr pragmatisch an, um möglichst schnell und ohne weitere Arbeit zu haben wieder der ungemütlichen schlechten Welt zu entfliehen. Doch keiner ist bereit den Göttern Unterschlupf zu gewähren – nur die Prostituierte Shen Te lässt sich breitschlagen. Als Entgeld - oder um sich freizukaufen? - erhält sie von den Göttern viel Geld für die Beherbergung. Mit Sarah Riedinger als Shen Te betritt eine Schauspielerin die Bühne, die die Gefühlslagen der Hauptfigur brillant herausarbeitet – sie liebt und leidet, sie hofft und wird enttäuscht, sie verschenkt Herzenswärme und erhält Kälte. Neben dieser unglaublichen schauspielerischen Leistung untermalt sie scheinbar mühelos an geeigneten Stellen die Bühnenhandlung mit ihrem Querflötenspiel. Alle Facetten aus Shen Tes Leben erlebt der Zuschauer mit. Aber dieser gute Mensch wird aus der Not der Menschen in ihrem Umfeld sofort ausgenützt. Der einzige Ausweg für Shen Te ist die Flucht – die Flucht in die harte zweite Rolle, dem Vetter Shui Ta. So wird Shen Te zeitweise zu ihrem eigenen Gegenspieler, weil sie sonst nicht überleben könnte - sie nicht und auch nicht ihr ungeborenes Kind, für das sie nun Verantwortung übernehmen muss. Als Shen Tes erfundener Vetter Shui Ta zeigt Sarah Riedinger jetzt die gesamte Bannbreite ihrer Fähigkeiten: Sie wirkt plötzlich hart und erbarmungslos, geschäftstüchtig und nahezu menschenverachtend. Der Wechsel zwischen Shen Te und Shui Ta wird auf der Bühne vollzogen, damit sich der Zuschauer genauso wie die Figur stückweise in die neue Identität einfinden kann. Die Beraterin, die Shen Te dabei unterstützt, dass aus der Ausgebeuteten der Ausbeuter wird, ist ihre ehemalige Vermieterin, die Witwe Shin. Irina Lazareva gelingt es mühelos die Härte und Kälte dieser Rolle auf die Bühne zu bringen, ohne jemals herzlos zu wirken.

Die Ursache für alle Herzlosigkeiten, zu denen Shen Te in Form ihres Vetters Shui Ta gezwungen wird, ist der Flieger Yang Sun. Oliver Simon verkörpert ihn genau so, dass nicht nur die weiblichen Zuschauer nachvollziehen konnten, wie es zu der bedingungslosen Liebe und auch Hörigkeit Shen Tes kam. Er ist verzweifelt, plant einen Selbstmord, spricht durch seinen Auftritt und seine Verzweiflung emotional an, ruft einen mütterlichen Instinkt hervor und zeigt sich andererseits auch mit einer männlichen Härte und einem Egoismus, dem sie ausgeliefert ist und der dazu führt, dass sie alles für ihn aufgibt. Die Dichte der dargestellten Facetten zeichnen Oilvers Auftritt aus.

Aber obwohl man sich immer wieder in die Figuren einfühlen möchte und ihr Handeln versteht, so ganz klappt es nicht. Eine Brecht -Inszenierung würde dessen Forderungen an das epische Theater nicht gerecht, wären da nicht die bewussten Brüche, die das Publikum aus der emotionalen Rezeption reißen würden. Im Gegensatz zu den Figuren, bei denen eine Identifikation notwendig ist, stehen die Rollen, die zu reinen Stereotypen wurden. Die Götter sind zwar in ihren Aussagen nur allzu menschlich, aber sie wirken durch ihre Art des Auftritts unnahbar, maskenhaft und surreal. Der schwierige Spagat zwischen menschlicher Fehlbarkeit und reiner Fassade gelingt Erva Gargar, Rana Duman und Vanessa Kreuzer hervorragend. Sowohl ihre Schauspielkunst als auch die Mangaköstume und die maskenhafte Schminke entblößen die Götter als Farce.

Die kreischende Stimme der Hausbesitzerin Mi Tzü (Ajlin Asanoska) wird so weit ins Groteske verzerrt, dass nicht mehr der Inhalt, sondern nur mehr der Auftritt und die anklagende und beherrschende Stimme wahrnehmbar sind – letztendlich ist der Inhalt der Rede hier eh marginal und austauschbar. Der Auftritt von Aylin weckt bei vielen Erinnerungen an vergleichbare Menschen im persönlichen Umfeld und ist nicht nur mutig sondern auch genau im Sinne von Bert Brecht.

Konsequent agieren die Schauspieler weniger miteinander als mit dem Publikum. Viele Rollen werden als Sterotype und nicht als Persönlichkeiten auf die Bühne gebracht. Selbst die Requisite durchbricht die Illusion durch Verfremdungselemente, unter anderem durch die mit einer Projektionswand auf die Bühne geholten aktuellen Missstände in der Welt, die den Zuschauer ins Grübeln kommen lassen.

Vor allem die kleinen Rollen hatten die schwierige Aufgabe mit wenig Text und andauernder Bühnenpräsenz herauszuarbeiten, dass es nicht die Guten und die Bösen gibt, sondern dass alle Opfer der gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Situation sind. Keine der Figuren ist nur gut oder nur böse – genau das muss der Zuschauer bei dieser gelungenen Inszenierung erleben bzw. vielmehr verstehen, denn die Theater AG bearbeitet das Stück so, dass der Zuschauer selbst und aktiv zum Nachdenken gezwungen wird, er wird zum Teil des Geschehens, weil alle Schauspieler und Schauspielerinnen ihn zum Interaktionspartner machen. Statt gemütlich mitfühlen zu können, wird er gezwungen die Handlung und die Handelnden zu bewerten.

Bei der Gerichtsverhandlung, bei der Shui Ta angeklagt wird, den guten Menschen Shen Te getötet zu haben, enttarnt Shen Te ihr Doppelspiel und klagt die gerichtsführenden Götter an, dass es in dieser Welt unmöglich sei, gut zu sein und doch zu leben. Die Götter entziehen sich ihrer Verantwortung und schweben davon. Der Zuschauer wird mit der Frage, wie man diesem Dilemma entkommt, alleingelassen und muss sich die Antwort selbst suchen.

Auch 80 Jahre nachdem Brecht diese Frage aufwarf, gibt es keine eindeutige Antwort. Aber vielleicht hat diese ausgezeichnete Inszenierung dazu beigetragen, dass jeder einzelne versucht, unsere Welt ein kleines bisschen besser zu machen. Und vielleicht ist es dann irgendwann in ferner Zukunft nicht mehr unmöglich, gut zu sein und doch zu leben…

Vielen Dank an Cornelius Lehmann, Peter Kliebhan und alle Beteiligten an diesen tollen Theaterabenden für eine verstörende, nachdenklich stimmende und ergreifende zeitgemäße Aufführung.

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